Medusa esplorato

Spiegelung und Schatten auf Caravaggios Medusenschild von 15971

„Der Tod ist kein Ereignis des Lebens, den Tod erlebt man nicht“2

Was den Betrachter an der Darstellung der Gorgo fesselt und zu wiederholtem Nachsehen und Überprüfen der Situation auffordert, ist ihr lebendiges, fassungsloses und in höchstem Maße erschrecktes Antlitz, das ganz im Gegensatz zum kühlen, sauberen Schnitt und dem Hervorquellen von dickem roten Blut an ihrem Halse steht. Sie ist tot – ihr Gesichtsausdruck aber ist der einer Lebendigen.

Caravaggio stellt einen Zustand dar, der sich nicht als „lebendig“ oder „tot“ beschreiben lässt. Diese changierende Unklarheit im Zusammenspiel mit der Objektidentität sind Ausgangspunkte für die Frage nach dem dargestellten Moment dieses ikonischen Gemäldes.

Medusa, eine der Gorgonen, vermochte es, mit ihrem Blick ihr Gegenüber in Stein zu verwandeln. Der junge Held Perseus zog aus, um ihren Kopf zu holen. Nach Willen und Absicht des Auftraggebers, König Polydektes, sollte das Vorhaben seinen Tod herbeiführen. Doch die göttliche und tugendhafte Athene gab ihm den Schild als schützenden Beistand. Sein spiegelnder Effekt sollte später Perseus’ Rettung sein, denn durch ihn konnte er Medusas fürchterlichem Blick entgehen. Der Schild hatte also maßgebliche Bedeutung für das gute Gelingen des vordergründig unmöglichen Unterfangens und war der Schlüssel zum Erfolg.

Die erste Annahme zu diesem Gemälde geht auf diesen Abschnitt des Mythos’ ein. Demnach hat Caravaggio den Moment der Enthauptung, in dem Medusa sich im Schild spiegelt, festgehalten. Der Betrachter ist folglich mit dem Schlüsselmoment des Mythos konfrontiert, der die List und den Augenblick der Enthauptung permanent vergegenwärtigt und Medusas erschreckt erregtes Antlitz, ebenso wie das hervorspritzende Blut, einfriert. Die sich windenden Schlangen und der merkwürdig lebendige Gesichtsausdruck der de facto Toten tragen zum Eindruck bei, den Augenblick der Enthauptung vor Augen zu haben. In diesem Fall sind Tod und Lebendigkeit aufs höchste konzentriert und tragen zur bildimmanenten Spannung bei.

Im Folgenden wird die Überlieferung des Mythos’ wiedergegeben, wie sie zu Caravaggios Zeit vermutlich bekannt war.

Medusa ist eine der drei Gorgonen, Töchter der vorolympischen Meergottheiten Phorkys und Keto. Ihr bannender Blick und ihre schreckliche Gestalt verwandeln jeden, der sie ansieht, in Stein. Das magische Talent und das schaurige Aussehen waren Medusa jedoch nicht von Geburt an eigen.3 Denn „einst war sie das schönste Mädchen, das eifersüchtig gar viele Bewerber umdrängten“ wie Ovid berichtet.4

Poseidon, der Herrscher des Meeres, war betört von Medusa und vor allem von ihrem Haar, welches das „allerschönste“ an ihr war.5 Der Meergott verführte Medusa und schlief im Tempel Athenas mit ihr. Er entehrte Medusa und erzürnte seine jungfräuliche Nichte Athena Parthénos. Diese bestrafte daraufhin Medusa, indem sie „die Haare der Gorgo in hässliche Schlangen“ verwandelte.6

Durch die Verwandlung gerät Medusa in eine „mythische Zwischenzone, in der die menschlichen Züge ein Bündnis mit dem Tierischen eingehen.“7 Medusa wird hier zur lasterhaften Feindin der tugendhaften Athene. Denn für sie trägt Medusa die Schuld daran, dass Poseidon von ihrer Schönheit verführt war und folglich ihr Tempel entweiht wurde.8 Später wird Athene Perseus’ tatkräftige Unterstützerin, als der auszieht, um die Gorgo zu erlegen.

Perseus selbst stammt von der Königstochter Danaë und dem Göttervater Zeus ab, der Danaë in der Gestalt von Goldregen schwängerte. Danaës 8Vater, König Akrisios, fürchtete sich vor dem Enkel, da ein Orakel ihm vorausgesagt hatte einst von diesem umgebracht zu werden. Er sperrte seine Tochter und den Enkel Perseus in einen Kasten und setzte sie auf dem Meer aus. Die beiden werden schließlich auf der Insel Seriphos an Land gespült. Der dortige Herrscher Polydektes stellt Danaë nach, während diese seine Heiratsgesuche ablehnt. Zudem stellt sich der inzwischen herangewachsene Perseus schützend vor die Mutter. Polydektes ersinnt eine List, um Perseus aus dem Weg zu räumen. So gibt er vor eine andere Frau heiraten zu wollen, der er gerne das Haupt der Medusa als Hochzeitsgeschenk darbringen möchte. Perseus nimmt den Auftrag an, um die Bedrängnis der Mutter zu beenden und Polydektes heißt den jungen Mann aufbrechen, damit dieser sein eigenes Todesurteil vollstrecke. Perseus’ wagemutiges Unterfangen wird indes vom Götterboten Hermes und Athene unterstützt. Sie geben ihm Zaubergerätschaften, die zum guten Gelingen beitragen sollen: den Schild, ein Sichelschwert, eine Zaubertasche, eine Tarnkappe und Flügelschuhe. So ausgestattet macht Perseus sich auf die Suche nach Medusa.

Das Herannahen des bedrohlichen Aufenthaltsorts der Gorgonen wird bei Ovid durch zunehmend „unwegsames Gelände, wo brüchige Wälder auf Felsen starren“ veranschaulicht.9

Angesichts der Gorgo ist der Schild, den Perseus von Athene bekam, das rettende Instrument. So nutzt er ihn als Spiegel, um Medusa nicht direkt ansehen zu müssen und ihren Bann zu brechen. Als er Medusa mit einem Streich den Kopf abschlägt, ist es Athene, die ihm die Hand führt.10

Wie sich herausstellt war Medusa von Poseidon schwanger. Ihrem Blut entspringen Pegasus, das geflügelte Pferd, und Chrysaor, der Krieger mit dem goldenen Schwert.11

So bewirkt der todbringende Gewaltakt gegen die Mutter gleichzeitig die Geburt ihrer Kinder. Einen Teil des aus dem Kopf strömenden Blutes fängt Pallas Athene auf und schenkt es Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Mit dem Blut der linken Arterie kann Asklepios Tote zum Leben erwecken, mit dem der rechten Lebende vernichten.12

Den Kopf steckt Perseus in den Zauberbeutel und entkommt den aufgeschreckten Schwestern, indem er sich unter der Tarnkappe verbirgt und mit den geflügelten Schuhen davon fliegt. Unterwegs tropft Medusenblut auf Libyens Wüste und verwandelt sich dort sogleich in Schlangen, die von da an das Land bevölkern.13

Der Blutzauber ist auch für die Entstehung der Korallen verantwortlich, die aus der Berührung des Blutes mit Meeresalgen entstehen.14

Als schließlich der starke Atlas Perseus die Gastfreundschaft verweigert, empört sich der junge Held. Er holt das Medusenhaupt aus der Tasche und versteinert den riesenhaften Mann. Zeugnis davon ist noch heute das Atlasgebirge.15

Diese Beispiele zeigen, dass Medusas Macht ihren Tod überdauerte und sich in einer eigenwilligen Fruchtbarkeit auf der Erde manifestierte.

Bis Perseus zur Mutter zurückkehrt, befreit er Andromeda, versteinert den feindlichen Phineus, dann Polydektes und die jeweilige Gefolgschaft. Er kehrt dann in Begleitung der beiden Frauen zurück ins eigentliche Heimatland, wo er den Orakelspruch erfüllt und durch unglückliche Geschicke den eigenen Großvater ums Leben bringt. Nachdem Perseus seine Abenteuer bestanden hat, gibt er den Göttern die Ausrüstung zurück. Den Medusenkopf bringt er Athene, die ihn nun als Zeichen des Triumphs auf die Mitte ihres Schildes heftet und somit ihre kriegerische Ausstattung vervollständigt. Der Schild wird durch den Medusenkopf zu ihrem klassischen Attribut. Mit dem Gorgoneion erinnert Athene daran, ihr hörig zu sein, sie bemächtigt sich aber auch Medusas Zauber und gewinnt damit eine mächtige Waffe mit apotropäischer, also abwehrender, schützender Wirkung.

In Bezug auf Caravaggios Medusenschild stellt sich die Frage welcher Moment, beziehungsweise welcher Schild dargestellt ist. Ist es der Zeitpunkt zu dem Athena Perseus mit der Eingebung beisteht, die Spiegelung des Schildes zu nutzen? Oder aber handelt es sich um Athenas Schild, das apotropäische Gorgoneion?

Bei Caravaggios Gemälde verschafft die Berücksichtigung des Schattens auf dem Hintergrund einer Deutung als Gorgoneion Gewicht. Denn der Schatten legt nahe, dass ein plastischer Kopf dargestellt ist, der sich vor einem grünen Schild erhebt.

Durch den Schatten wird die zweidimensionale Grenze des Bildes aufgebrochen und Caravaggios Medusengemälde bekommt rilievo, also Plastizität.

Gewissermaßen entspricht dieses rilievo auch einer Täuschung, einem inganno, denn die Malerei selbst ist nicht plastisch, sie kann nur vorgeben, es zu sein.16

Caravaggio inszeniert den Medusenkopf demnach als das mächtige Gorgoneion, den applizierten Kopf auf Athenas Schild.

  1. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra Artium der Universität Hamburg, Vorgelegt von Constanze Eva Hager aus Stuttgart, Hamburg 2012 ↩︎
  2. Ludwig WITTGENSTEIN: Tractatus logico-philosophicus [1921], 6.4311, Frankfurt a. M. 1963 ↩︎
  3. Jan BREHMER: Gorgo. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Band 4, Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 1154 ↩︎
  4. OVID: Met. 4,793. Noch bei Apollodor heißt es Medusa habe ihre Schönheit mit der der Athene gemessen, woraufhin diese die Anmaßung bestrafen musste. Vgl.: APOLLODOR: Bibl. 2,4,3. Bei Ovid und Boccaccio findet sich jedoch die hier dargelegte Variante. Vgl.: BOCCACCIO: Gen. 10,11. ↩︎
  5. OVID: Met. 4, 796. ↩︎
  6. OVID: Met. 4, 799 f. ↩︎
  7. Werner HOFMANN: Der bannende Blick. In: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Wiener Festwochen], Werner Hofmann und Hans AURENHAMMER (Hrsg.), Wien 1997, S. 138. ↩︎
  8. Natale CONTI: Mythologiae, 10, S. 301, [Venedig 1567]. Zitiert nach: LÜCKE 2006, S. 547 ↩︎
  9. OVID: Met. 4, 777 f. ↩︎
  10. Vgl. APOLLODOR: Bibl. 2,4,2. Bei OVID: Met. 4, 783 f. wird von keinem göttlichen Beistand in der Situation berichtet. Laut LUKIAN, Dial. Mar. 14, hielt Athena persönlich den Schild, und Perseus wandte den Kopf zu ihr, um die Spiegelung sehen zu können. Ikonografisch schlägt sich das bei Carracci, 1597, Palazzo Farnese und später Maffei um 1650 (heute Accademia, Venedig) nieder (Abb. 24). ↩︎
  11. „Pegasus und sein Bruder entwuchsen dem Blut der Mutter“, OVID: Met. 4,786. Bei Boccaccio heißt es, die Zwillinge wären aus dem Blut des Hauptes hervorgegangen. Vgl.: BOCCACCIO: Gen. 10,72. ↩︎
  12. Robert von RANKE-GRAVES: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg 1960, S. 155. ↩︎
  13. OVID: Met. 4, 619. Zu beachten an der Nennung Libyens ist, dass sich darin eine Andeutung für den Aufenthaltsort der Gorgonen verbirgt, der wohl auf dem afrikanischen Kontinent lag. ↩︎
  14. OVID: Met. 4,740 f. ↩︎
  15. OVID: Met. 4,631 f. ↩︎
  16. „Schatten und Echo erscheinen beide bei Platon als die ersten Täuschungen (die ein optischer, die andere akustischer Art) über das Wirkliche. Damit hat der Schatten, selbst im Bereich der optischen Trugbilder, den Primat über den Reflex im Spiegel. Es handelt sich in diesem Stadium des platonischen Denkens um eine klare Intention, den Schatten an den Ursprüngen der epiphenomenalen Verdopplung, vor dem Spiegelbild, zu verorten.“ STOICHITA 1999. S. 23. ↩︎