Vernissage

Asere Bailarín im Gespräch mit seinem Galeristen Freerk Kreutzberg

Herr Bailarín, schön, dass wir Sie bei uns in der Villa Schöningen begrüßen dürfen

ich habe meine Jolle direkt an der Glienicker Brücke vertäut, danke für die Einladung

Ihre Werkschau trägt den Titel Demiourgia und Eleutheria

das griechische Begriffspaar Kreativität und Freiheit leitet mich und ein Gedanke von Rumi aus dem dreizehnten Jahrhundert

in ihm begegne ich mir und mit ihm will ich das Publikum packen

Schönheit im schillerschen Sinne?

wenn unverhüllt das schöne Maß beängstigend fast unerträglich, ist es für mich gut gelungen, dann fühlen wir uns am lebendigsten, unsere Seele blüht auf

Phryne vor dem Areopag, Schönheit ist eine Tugend, Milo Manara

also entschleiert, ohne daran zugrunde zu gehen, wie der Jüngling zu Sais, der der Isis zu nahe, erfahren musste, dass kein Sterblicher je wird ihren Schleier lüften

lassen sie mich Michelangelos nackten David mit einer Skulptur von Sanmartino vergleichen, dem Cristo velato in der Sansevero-Kapelle in Neapel

das Gesicht und die Wunden in Händen und Füßen diaphan unter dem Leichentuch, das Ganze aus einem Marmorblock; die einzigartige Magie der Komposition entsteht durch den transparenten Schleier, er verhüllt den Tod und enthüllt zugleich den Raum zwischen dem heiligen und dem profanen, das durch das Opfer entstandene Interstitium, den Ort der Leere und des Dazwischen

Sie meinen die platonische Cora?

Wirklichkeit wirkt oft authentischer, wenn sie zugleich inszeniert und verschleiert und dabei möglichst viel preisgibt, gewissermaßen augmented beauty

Schönheit erwächst in der Nähe von Gefahr, Tod und Wunden und in der Nähe von Fehlern, wir fühlen uns nie so lebendig, als in der Nähe unserer Angst

wie meinen Sie das?

die Vergänglichkeit als berauschendes Prinzip der Schönheit, wie das Unfertige, das Fehlerhafte oder das Unmögliche. Wenn Störung sich und Unordnung zu Stimmigkeit fügen, entsteht daraus Harmonie

der Gestaltungswille erst mache Sie zum Menschen. Können Sie das erklären?

Geschichten zu erzählen, die Freiheit, Künste und Sinne, Wissen, Sammlunen und Erfahrungen in Bewegung zu bringen, neu zu denken und anatomisch scharf zu begreifen, zündet doch eigentlich uns alle

ewige, kurzatmige Entwicklung, die sich auf die Spitze ihres Stammbaums zurückwünscht um dann nach Art und Spezie stundenlang am Geäst abzuhängen bis der Arm brennt und der Affe erwacht

was für eine Entwicklung?

F-Strich, die erste Ableitung, gleicht dem Ball und steigt zum Fall – what grows up, we cut down, things evolve and die

was treibt Sie an?

sage mir Muse, sing mir den Zorn und lehr mich die Liebe

die Technik ist die Restriktion der Freiheitsgrade und die Häutung, so bleiben die Erzählungen frisch und jung

und ich starre zweifelnd in die Leere und versuche, nicht gottlos zu kapitulieren sondern Antworten zu finden und Wahrheiten, die vielleicht am ehesten im Mysteriösen wahrzunehmen sind oder im Humanen oder wie gesagt in der Nähe von Schönheit

Sie wirken viel affirmativer als zuletzt

das stimmt, ich bin gegenüber meiner jüngeren Version bescheidener und neugieriger geworden, ein ästhetischer Archäologe, wenn sie so wollen

wie geht es weiter?

als ich zuletzt durch meine Bestände und gewissermaßen durch mein Leben mäandert bin, wurde mir klar, dass es um die Anderen geht, nicht um meine Projektionen, bei Anderen finde ich absolute Askese

wie fühlen Sie sich jetzt?

fröhlich und furchtlos, wie ein durchgebrannter Esel

na dann weiterhin viel Spaß

danke auch

Schönheit

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Amor und Psyche, Louvre, 1787 Antonio Canova nach den Metamorphosen/Der goldene Esel von Apuleius 2.Jh.

in a certain city there once lived a king and queen. They had three daughters very fair to view. But whereas it was thought that the charmes of the two eldest, great as they were, could yet be worthily celebrated by mortal praise, the youngest daughter was so strangely and wonderfully fair that human speech was all too poor to describe her beauty, or even to tell of its praise. Many of the citizens and multitudes of strangers were drawn to town in eager crowds by the fame of so marvelous a sight and were struck dumb at the sight of such unapproachable loveliness

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Mythen der Antike, Luc Ferry, Splitter Verlag 2021

the fame spread abroad to the nearest islands and had traversed many a province and a great portion of the earth

but the true Venus was exeedingly angry that divine honors should be transferred thus extravagantly to the worship of a mortal maid

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straightaway she summoned her winged headstrong wicked boy, scorner of law and order, who, armed with arrows and torch aflame, speeds through others‘ homes by night … and showed him Psyche – for so the maid was called – face to face1

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… böse Schwestern … Sündenfall … Wanderungen … Prüfungen … Erlösung Psyches = Jupiter gedachte, dem hitzigen Temperament Amors Zügel anzulegen, indem er ihn in die Fesseln der Ehe schmiedete. Um Venus zu besänftigen und deren zukünftige Schwiegertochter in Adel und Stand zu bringen, ließ er Psyche eine Schale Ambrosia reichen. Damit war sie unsterblich und wurde mit Amor vermählt in alle Ewigkeit. Die Horen schmückten zur feierlichen Trauung die Tafel, Ganymed schenkte Nektar aus, Satyr und Pan spielten zum Tanz die Flöte und Schalmei

sie genas einer Tochter die heißt Lust2

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Amor vincit omnia, Caravaggio 1602

Psyche war anfangs die Seele ohne Körper, Geist ohne Materie, Schönheit ohne Sinnlichkeit, sodass die Botschaft der Erzählung eindeutig ist: Erst in der Vereinigung mit Eros lernt sie die wahre Liebe kennen, die mit Lust einhergeht und Leben hervorbringt, was in der Geburt der Voluptas ihren Ausdruck findet. Aufgegriffen wird die platonische Idee der Versöhnung von Eros, der Liebe, die nimmt und verzehrt, mit Agape, der selbstlosen Liebe des Gebens und Gewährens. Außerhalb eines Bezugs zum Göttlichen, der Heiligung des Anderen ist Liebe kaum denkbar. Nur ist das Göttliche nicht gleich Gott, und das Heilige impliziert nicht den Glauben. Man kann sie auch, so scheint mir, aus einer säkularen, nicht-religiösen, kurz gesagt, einfach philosophischen Perspektive denken3

weil alle verrückt mit ihr und ihren zu schönen Schönheiten wehrlos ausgeliefert sind, lässt Ovid seine Daphne verängstigt flehen:

Hilf, Vater“, sagt sie, „wenn ihr Flüsse göttliche Macht habt! Durch Verwandlung verdirb die Gestalt, mit der ich zu sehr gefiel!“ Kaum war die Bitte beendet, befällt schwere Taubheit die Glieder: Die weichen Brüste werden von zarter Rinde umschlossen, die Haare werden zu Laub, die Arme wachsen als Äste; schon wird der flinke Fuß von trägen Wurzeln gehalten,
ein Wipfel verbirgt das Gesicht: Der Glanz allein bleibt ihr — Ovid, Metamorphosen, Buch 1, Vers 545–55

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Apollo und Daphne, Gian Lorenzo Bernini um 1625, Villa Borghese
  1. The Metamorphoses or Golden Ass of Apuleius of Madaura, H.E.Butler, Clarendon Press, Oxford, 1910 ↩︎
  2. Metamorphosen des Apuleius, übersetzt von Eduard Norden, Leipzig, 1902 ↩︎
  3. La Révolution de l’amour. Pour une spiritualité laïque, Luc Ferry, Plon, 2011 ↩︎